..Zeit für ein schlechtes Gewissen?
Der neue Musterknabe im Norden
KLIMASCHUTZ Die Erdölnation Norwegen hat Grosses vor: Ihre Klimabilanz soll bis 2030 neutral sein. Allerdings werden dafür einige Taschenspielertricks nötig sein.
REINHARD WOLFF (AZ 8.2.08 )
Norweger leben auf grossem Fuss. Statistisch hinterlässt jeder derzeit eine Fussspur von jährlich 134 Tonnen CO2 auf der globalen Klimagasbilanz. Dennoch kündigte ausgerechnet die Regierung in Oslo nun an, das Land werde als weltweit erstes spätestens bis zum Jahre 2030 «klimaneutral» sein. Ein utopisches Ziel?
Jedenfalls nicht, wenn die Statistik erst einmal ein wenig «angepasst» wird. Und man vom Öl und Gas, das der skandinavische Ölkrösus natürlich auch in Zukunft verkaufen will, nicht die eigene Klimabilanz verhageln lässt. Sondern es statt dem Förderland den jeweiligen Einfuhrstaaten auf die Rechnung setzt. Was Norwegens Klimagasverantwortung aufgrund eigenen Konsums schon einmal von 630 auf 54 Millionen Tonnen zusammenschrumpfen lässt. Womit man im Übrigen fast genau auf dem Wert der Schweiz landet.
FüR UNGEFäHR EIN DRITTEL der in dieser «bereinigten» nationalen Bilanz dann noch verbleibenden CO2-Last will man sich in Oslo mit dem Kauf von Klimazertifikaten in Drittweltländern freikaufen. Dank wohlgefüllten Ölkassen ein Luxus, den man sich leisten kann. Auch wenn die heimischen Umweltschutzorganisationen dies für einen Taschenspielertrick halten, den sie heftig kritisieren. Doch meint die breite Parteienkoalition, die das Klimaprogramm beschlossen hat und aus der rot-grünen Regierung und allen Oppositionsparteien mit Ausnahme der rechtspopulistischen Fortschrittspartei besteht, dass auch der Zwei-Drittel-Kraftakt, der dann in den nächsten gut zwei Jahrzehnten noch ansteht, schwierig genug werden könnte.
Womit sie vermutlich recht hat. Weil man die Industrie aus Gründen der internationalen Konkurrenz möglichst schonen will und die Einsparungsmöglichkeiten im Transportsektor begrenzt sind – in dem dünn besiedelten Land, neunmal so gross wie die Schweiz, dafür aber mehr als ein Drittel weniger Einwohner, ist beispielsweise keine vergleichbare Bahninfrastruktur realistisch –, soll der Energiesektor die Hauptlast tragen. Als «norwegische Mondlandung» charakterisierte Ministerpräsident Jens Stoltenberg die Pläne. Der Vergleich passt. Will man doch auf Technik setzen, die es entweder noch gar nicht gibt oder die bislang erst im Labor oder in kleinem Massstab erprobt worden ist. Dreh- und Angelpunkt: stromproduzierende Gaskraftwerke mit CO2-Sequestrierung und damit ohne Ausstoss von Klimagasen.
Das Kohlendioxid soll bei der Verbrennung nicht in die Atmosphäre gepustet, sondern aus den Rauchgasen abgetrennt, aufgefangen und unterirdisch deponiert werden. Als geeignete Lagerstätten hat man von Öl geleerte Kavernen unter dem Meeresboden im Auge. Der Nebeneffekt: Das dort eingebrachte CO2 soll die ansonsten nicht förderfähigen Ölreste an die Oberfläche drücken und damit zugänglich machen. Womit man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hätte: Das Ölzeitalter wird verlängert und dank dem Klimagas im Untergrund wird die nationale Bilanz nicht belastet.
IM GEGENSATZ zu vielen anderen Ländern, in denen mit der CO2-Sequestrierung geliebäugelt wird, tragen in Norwegen auch Teile der Umweltbewegung dieses Konzept mit. Ihr Argument: Es sei realistischerweise noch nicht möglich, das Zeitalter fossiler Energieerzeugung zu verlassen, und die Kavernendeponien könnten als relativ sichere Lagerplätze angesehen werden. Diese Einschätzung hat man bislang auch nicht infrage gestellt, obwohl sich beim bisher einzigen umfassenden Versuch einer CO2-Lagerung in leeren Ölkavernen im Golf von Texas herausgestellt hat, dass das saure CO2 dort die Wände der unterirdischen Reservoirs schon nach wenigen Jahren angreift und porös werden lässt.
Auch andere Techniken, auf die man in Oslo setzt, sind teilweise noch Zukunftsmusik: vielfältige Versuche, die Energie von Meereswellen einzufangen. Salzwasserkraftwerke, welche durch das Prinzip der Osmose Strom erzeugen. Schwimmende Grosswindkraftanlagen weit draussen vor der Küste, wo sie weder auf Anwohnerproteste stossen noch den Touristen die schöne Aussicht verbauen können.
UND AUCH EIN NAHELIEGENDES Potenzial muss erst einmal mühsam erschlossen werden: Stromsparen. Norweger sind der Welt grösste Stromverschwender. Jeder verbraucht viermal so viel Strom wie ein Schweizer. Ihnen fehle da wohl ein Gen, bekommt man als Erklärung zu hören, warum die in nahezu allen Wohnungen üblichen Elektroheizungen bei offenem Fenster laufen, Lichter Tag und Nacht brennen, man gerne die Garagenauffahrt mit Wärmeschlingen heizt, um sich das Schneeschippen zu sparen, und es schätzt, wenn der Aussenpool auch bei zweistelligen Minustemperaturen kuschelige 40 Grad Wärme hält.
Es «rächt» sich die Gewöhnung an lange im Überfluss vorhandenen Wasserkraftstrom. Der bislang dank schneereichen Winter, regenreichen Sommern und günstigen geografischen Voraussetzungen fast 100 Prozent des norwegischen Strombedarfs gedeckt hat. Doch nun sind weitere Ausbaumöglichkeiten erschöpft. Und seit der Liberalisierung und Öffnung der nordischen Strommärkte Mitte der Neunzigerjahre gehört die Zeit der Billigelektrizität der Vergangenheit an. Doch Gewohnheiten scheinen ähnlich schwer in den Griff zu bekommen wie neue Techniken.