Um die Lawinensituation richtig einzuschätzen, analysieren Experten die unterschiedlichen Schichten in der Schneedecke.
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Heute sei es fast wie in den Ferien, meint Thomas Stucki und entledigt sich seiner Jacke. Beim Graben mit der Schneeschaufel ist ihm warm geworden. Die Temperatur hier auf 2400 Metern ist am frühen Nachmittag beinah frühlingshaft. Wenn einem aber ein eisiger Wind die Schneeflocken in den Nacken treibe und die Finger vor Kälte ganz steif werden, könne es ganz schön ungemütlich sein, fügt er hinzu. «Ich denke, man muss bei dieser Arbeit regelrecht vom Schnee angefressen sein.»
Ob er denn bei jeder Witterung rausmüsse? «Das ist nicht immer zu vermeiden», erklärt der Leiter der Lawinenwarnung am Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos. Es sei wichtig, dass er und seine Kollegen sich jeweils vor Ort ein Bild über den Zustand der Schneedecke machen würden. Dadurch liessen sich ihre Prognosen verbessern.
Seit bald 60 Jahren veröffentlicht das SLF ein nationales und seit etwa 10 Jahren ein regionales Lawinenbulletin. Basierend auf Meldungen von Dutzenden Beobachtern im Feld und automatischen Messstationen verteilt über den ganzen Alpenkamm, schätzen die Davoser Experten die Lawinengefahr für den kommenden Tag ein.
Die über die Medien und das Internet verbreiteten Prognosen richten sich vor allem an Wintersportler sowie verantwortliche Stellen bei Bergbahnen, Rettungsdiensten und Gemeinden. Die Nachfrage ist gross: Alleine im Internet wurde die entsprechende Seite im letzten Winter rund vier Millionen Mal besucht.
Jedes Jahr verlieren durchschnittlich 25 Menschen in den Schweizer Alpen in Lawinen ihr Leben. Anfang dieser Woche wurde in Savognin ein Snowboarder abseits der Pisten verschüttet. Er konnte nur noch tot geborgen werden – das siebte Lawinenopfer dieser Saison.
Mit der Schneeschaufel gräbt Thomas Stucki bis zum felsigen Untergrund, siebzig Zentimeter tief. Er nimmt in einem steilen und von Skifahrern noch unberührten Hang unterhalb des Weissfluhjochs ein Schneeprofil auf. Dabei bestimmt er den Schichtaufbau und die Stabilität der Schneedecke und sucht nach jenen Schwachstellen, die brechen und damit am Anfang einer verheerenden Lawine stehen könnten.
Die so freigelegte Schichtung dokumentiert chronologisch die meteorologischen Verhältnisse seit dem ersten Schneefall. Wie in Sedimenten ist die älteste die unterste Schicht. Und gleich wie in Sedimenten sind die einzelnen Schichten in einem Schneeprofil jeweils unterschiedlich gestaltet.
Umwandlungsprozesse im Schnee
Mit dem Finger deutet Stucki auf einen dünnen, aber gut sichtbaren Streifen in dreissig Zentimeter Tiefe. «Das ist eingeschneiter Oberflächenreif, der kurz nach Weihnachten entstanden ist und später sanft eingeschneit wurde.» Die wenig stabile Schicht könne man in der Region überall finden, erklärt er. «Sie war für viele Lawinenabgänge verantwortlich.»
Die unterschiedliche Schichtung entsteht durch die verschiedenen Umwandlungsprozesse, denen Neuschneekristalle unterworfen sind. Sie verlieren dabei ihre filigrane Form und werden abgerundet. Der Schnee setzt und verfestigt sich.
An den konvexen Spitzen der Kristalle gehen gefrorene Eismoleküle schneller in den gasförmigen Zustand über als in den konkaven Stellen. Diese so genannte Sublimation führt dazu, dass der Dampfdruck um die Spitzen steigt und höher ist als in den konkaven Mulden eines Eiskristalls. Wasserdampf wandert deshalb von den Spitzen zu den Mulden, wo er sublimiert – die Kristalle werden allmählich abgerundet, rücken näher zusammen und bilden stabile Verbindungen untereinander aus.
Diese abbauende Umwandlung führe zu einer Verfestigung der Schneedecke, erklärt Stucki, und kann damit die Wahrscheinlichkeit einer Lawine vermindern.
Der umgekehrte Prozess aber, die aufbauende Umwandlung, erhöht die Lawinengefahr. Auf diese Weise entsteht beispielsweise Schwimmschnee, der, wie sein Name vermuten lässt, wenig stabil ist. Bei der aufbauenden Umwandlung werden aus kleinen neue grosse Körner, die nur wenige Verbindungsstellen untereinander haben und deshalb lose sind.
Schwimmschnee bildet sich bei einem grossen Temperaturgefälle innerhalb der Schneedecke. Dünne Schneedecken sind deshalb besonders gefährdet. Gleiches gilt für Hänge mit eingeschneiten Felsbrocken oder Büschen. Diese wirken nicht etwa stabilisierend, sondern fördern die Bildung von Schwimmschnee.
Neben Schwimmschnee ist eingeschneiter Oberflächenreif eine typische Schwachschicht. «Er bildet sich in klaren, kalten Nächten bei wenig Wind und genügend Luftfeuchtigkeit», erklärt Stucki. Der Schnee strahlt die Wärme direkt in den Weltraum ab und kann sich bis zu 20 Grad unter die Lufttemperatur abkühlen. An der kalten Schneeoberfläche sublimiert Luftfeuchtigkeit und lässt einzelne Schneeplättchen wachsen, die im Extremfall bis zu 15 Zentimeter lang werden können.
Wenn Neuschnee den Oberflächenreif zudeckt, kann er nur wenig Last tragen. Eingeschneiter Oberflächenreif könne noch Wochen später zu Lawinen führen, weiss Stucki.
Mit einer Lupe bestimmt der Lawinenexperte die Körnung der Schichten und misst mit einem Thermometer deren Temperatur. Indem er einen oder mehrere Finger in den Schnee stösst, beurteilt er die Härte. Dann legt Stucki mit der Schneesäge einen dreissig mal dreissig Zentimeter grossen Block frei.
Schwachschicht entdeckt
Behutsam legt er die Schaufel auf den Block und schlägt mit der flachen Faust erst sachte, dann stärker drauf. Nichts. Beim zweiten Schlag geben die untersten zehn Zentimeter nach. Nach weiteren sechs Schlägen kommt es zu einem Teilbruch in zwanzig Zentimeter Tiefe. Stucki ist überrascht und inspiziert die Stelle. Eine kaum sichtbare Schicht aus eingeschneitem Oberflächenreif, die er vorher übersehen hatte, entpuppt sich als Schwachstelle. «Die tiefer liegende Reifschicht von Weihnachten ist offenbar nicht mehr aktiv», erklärt der Forscher.
Später wird Stucki noch mit den Skiern an den Füssen in einer akrobatisch anmutenden Einlage auf einen grösseren Block springen und damit einen weiteren Stabilitätstest machen. Wieder gibt die eben erst entdeckte Reifschicht nach. Alle Beobachtungen werden fein säuberlich notiert. Das erstellte Profil ist nur eines von vielen Puzzleteilen, welche die Davoser Experten später am Nachmittag bei der Beurteilung der Lawinensituation heranziehen werden.
Natürlich sei das keine genaue Wissenschaft, erklärt Stucki. «Man braucht viel Erfahrung, um die richtigen Schlüsse aus den unterschiedlichen Messdaten zu ziehen.» Doch je besser die zur Verfügung stehenden Informationen aus dem Gelände sind, desto genauer werde die Einschätzung der Lawinensituation. [TA | 03.02.2006]
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