Die Doppelstadt, der Hagel und die Tage der Erkenntnis
In Villingen-Schwenningen rechnet man mittlerweile mit mehr als 100 Millionen Euro Schaden
Verhagelt ist die Stimmung in Villingen-Schwenningen. Das verlorene Länderspiel gegen Italien gilt in der Doppelstadt dabei als Petitesse. Wenngleich das Erwachen aus dem Traum von der Fußballweltmeisterschaft den Blick frei gibt auf die Lage der Dinge in der 82000-Einwohner-Stadt. Nach den beiden Hagelstürmen vor einer Woche ist die Doppelstadt immer noch nicht aufgeräumt. Ziegel liegen auf der Straße, Dächer sind notdürftig abgedichtet, Erkenntnis macht sich breit. Der besonnene CDU-Stadtrat Bernd Hezel ist als Statiker vom Fach. Er schätzt: "100 Millionen Euro reichen da wohl nicht."
Der bange Blick der Bürger gilt in diesen Tagen des Reparierens und Aufräumens dem Himmel und den Wetterprognosen. Fast schon Panik ausgelöst hatte am Montag und Dienstag die Meldung, es sei Mitte der Woche wieder mit Gewittern und Sturmböen zu rechnen. Gewitter - oh nein: Zu Hunderten sind die Dächer zerhagelt. Viele schwören Stein und Bein, dass die Größe der Eisklumpen vergleichbar war mit Tennisbällen. Die Löcher in den Dächern sprechen Bände. Dicke Tonziegel hat es durchschossen, saubere Ränder beweisen die Wucht.
Eine Mutter war zum Zeitpunkt des ersten Hagelsturms mit ihren beiden Kindern zu Fuß in Villingen unterwegs. Sie hatte unter einem Vordach Unterschlupf gesucht und existenzielle Ängste ausgestanden. Das Trommelfeuer des Hagels schreckte nicht nur Autofahrer bis auf die Knochen. Auch diese Mutter möchte "dieses Geräusch nicht noch einmal hören müssen". Dass um sie herum Ziegel und Glasscherben zu Boden prasselten, erwähnt sie angesichts des eisigen Trommelfeuers nur am Rande.
Sturmböen - bloß nicht jetzt: So hoffen viele Bürger, die nun nach Tagen endlich einen Handwerker aufs Dach bekommen haben, dort, wo flatternd-dünne Baumarkt-Folien klaffende Dachstuhl-Lücken abdichten.
Aus Ravensburg, aus Friedrichshafen, aus Überlingen aus Esslingen. Von überall her kamen sie angefahren mit Pritschenfahrzeugen. Männer mit großen Händen, sehnigen Unterarmen und ganz viel Erfahrung auf dem breiten Buckel. Die Handwerkskammer hatte zur Reparatur-Sternfahrt nach Villingen-Schwenningen aufgerufen. Die Dachdecker und Zimmerer kamen in Scharen. Sie begannen zu arbeiten. Ein Dach nach dem anderen. Geredet wurde nicht viel. Dicht machen, war das Gebot der letzten Tage. Reparieren, das ist nachrangig.
Gestern Nachmittag begann es zu donnern. Wurden die Stoßgebete nicht erhört? Fakt ist, dass drei mit dicken Regentropfen niedergehende Schauer die malträtierte Stadt überzogen, dann war es wieder vorbei. Das Bangen geht weiter. Nicht alle Dächer sind dicht. Längst nicht alle. Einer Villinger Firma hat es über der Produktionshalle das riesige Dach zerhauen, Totalschaden, ganz weit oben. Aber darunter? "Wir wissen es noch nicht", sagt der Manager. Die Firma fährt langsam die gewässerten Maschinen wieder hoch und hofft einfach, dass die Schäden gering bleiben mögen. Zwei Millionen Euro Gebäudeschäden sollen es allein hier sein. Das 300-Mann-Unternehmen weiß noch nicht, was in seinem Lager ganz genau geschah. Auch das ist nachrangig. Wichtig ist, dass die Maschinen wieder laufen können und die Leute ihren Arbeitsplatz haben.
Szenenwechsel. Die Städtische Wohnbaugesellschaft bietet vielfach Adressen für Leute, die zu den Ärmsten im reichen Land Deutschland gehören. Diese Frauen und Männer hat es am bittersten getroffen. Der Geschäftsführer der städtischen Gesellschaft, Walter Grimminger, skizziert die Lage so: "Diese Leute haben so gut wie nichts. Vielleicht mal eine kleine Küche. Jetzt ist die auch kaputt und Geld für eine Hausratversicherung war natürlich nie übrig."
Die städtische Wohnungsbaugesellschaft bilanziert bislang einen Schaden von acht Millionen Euro. Nur in Villingen und Schwenningen. Bestätigt wird auch hier, dass es Schwenningen schwer getroffen hat. Wieder einmal. Zuletzt war es erst 2002 soweit. Jetzt hat es die Adressen mit den Sozialwohnungen so schwer erwischt, dass die Wohnungsbaugesellschaft mehrere Familien umsiedeln muss. Diese Bürger der Doppelstadt bekommen neue Wohnungen - doch sie haben vielfach ihr weniges Hab und Gut verloren: Das sauer zusammen gesparte Sofa, den Fernsehsessel, die Wohnzimmervitrine. Jetzt müssen diese Menschen umziehen, "wir müssen einige Häuser leeren, sie sind einsturzgefährdet", sagt der Wohnbau-Geschäftsführer der Stadt.
Villingen-Schwenningen im Juli 2006. Eine Stadt schüttelt sich. Man spricht von einer Katastrophe. Viele schimpfen über das Rathaus. Und über den am Tag nach dem Unwetter entspannt in den Urlaub entschwundenen Baubürgermeister, über den gestern sogar die Bildzeitung schimpfte. Leser senden Fotos vom Hagelgewitter an den SÜDKURIER. Im Internet wurden auf "suedkurier.de" allein hierzu 511977 Zugriffe registriert. Der Hagel bewegt. Er ängstigt. Und das Ausscheiden der Deutschen bei der WM? Man trauert auch hier. Doch es gibt Wichtigeres im Leben.
Leserfotos zum VS-Hagel unter gibt es hier:
http://www.suedkurier.de/_/tools/diaview.html?_CMTREE=10613&list=1
http://www.suedkurier.de/_/tools/diaview.html?_CMTREE=10612&list=1
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