Ich war damals 18 und ging noch in die Schule. Wir haben die Lehrer gefragt, was das für uns zu bedeuten hätte und sie haben sich etwas aus den Fingern saugen müssen, weil sie es auch nicht so recht wußten. Der Biolehrer sprach dann von den Auswirkungen auf den Körper, der Physikleher sprach zu seinem Thema und der Chemielehrer über die chemische Seite des Falles. Viel schlauer waren wir am Ende des Tages allerdings nicht und wir hatten natürlich mitbekommen, daß die Lehrer selber nicht recht wußten, ob das stimmte, was sie uns sagten, und sich sehr allgemein hielten.
Genervt war ich dann über die Hysterie einiger Leute, die dann gleich forderten, es dürfte kein Vieh mehr auf die Weiden, kein Gras sollte gemäht werden für Heu usw., so wie das jetzt mit der Vogelgrippe ist. Das lauteste Geschrei machen ja immer die, die am wenigsten wissen. Viele andere meinten dagegen, Tschernobyl ist weit und da man nichts sah, roch, spürte, ließ sich das auch leicht mal verdrängen. Dann wieder kamen Zweifel, ob man die Haare auf dem Kopf behalten würde oder demnächst als glatziges Opfer der Strahlenkrankheit auf den Tod zu irren würde.
Geärgert haben wir uns über die Art und Weise, wie die Politiker der verschiedenen Länder damit umgingen. Die Sowiets selber haben ja zuerst versucht, die ganze Sache totzuschweigen. Erst als in westlichen Ländern, vor allem in Schweden glaube ich, drastisch erhöhte Strahlungswerte gemessen wurden, mußten sie am Ende damit herausrücken, daß es da einen "kleinen" Zwischenfall gegeben hatte. Westliche Politiker, damals noch im kalten Krieg, versuchten das gleich wieder propagandamäßig auszuschlachten. Aber auch bei denen merkte man, daß sie selber eigentlich nicht wußten, was die Situation bedeutete. Alles, was sie sagten, plapperten sie nur irgendwem nach. Und je nachdem, welcher Branche der Zitierte angehörte, gingen die Meinungen doch sehr auseinander.
An Sicherheitsmaßnahmen konnte man nicht viel erreichen. Da wurden an der östlichen Grenze LKWs gewaschen, aber keiner dachte daran, das ablaufende Wasser aufzufangen und zu dekonterminieren. So nach und nach wurden dann an den Grenzen bessere Maßnahmen zur Dekonterminierung aufgebaut, aber das konnte ja nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Jede Bö aus Osten konnte womöglich mehr Gift mitbringen, als sie von einem LKW abwaschen konnten (oder der Fahrer hatte die Hauptgefahr in Form von Wodka im Blut). Vielleicht war das auch mehr zur Beruhigung des Gewissens geeignet als zum Schutz der Bevölkerung, das weiß ich bis heute nicht. Vielleicht haben sie auch die eine oder andere kaputte Bremse gefunden dabei und uns damit etwas geschützt.
Insgesamt kann man sagen, keiner wußte was Genaues und alle konnten nur bang abwarten. Als das volle Ausmaß des Geschehens bekannt war (das kam so nach und nach heraus), war man auch wütend, weil die Russen das hatten verschweigen wollen. So was ist natürlich unverantwortlich. Genau betrachtet, war natürlich die ganze Art und Weise, wie das Kraftwerk betrieben worden war, unverantwortlich. Da gab es ja viel zu wenige Sicherheitsvorkehrungen, hier sind die Vorschriften wesentlich strenger. Dann hat man noch jede Menge Leute hingekarrt zum "Aufräumen." Die waren alle nach kurzer Zeit tot. Heute weiß ich, daß das beabsichtigt war- wer nicht mit der Partei konform war oder sich mal irgendwo aufgelehnt hatte oder zuviel wußte, wurde in Tschernobyl entsorgt. Da braucht mir jetzt keiner zu widersprechen, nur weil er sich das in seiner gutmütigen Naivität nicht vorstellen kann. Das weiß ich original von einem beinahe betroffenen Russen, der dem Transport nach Tschernobyl nur mit knapper Not entkam. Von denen, die in diesem Transport waren, hat ein Jahr später keiner mehr gelebt. In den Leuten ist der Krebs regelrecht explodiert.